Predigt

Reinhold Stecher

„Es ist klar, dass ich nicht alles übernehmen kann, wozu ich eingeladen werde, aber zu dieser Sache habe ich sofort ‚ja‘ gesagt, weil mir das, was hier geschieht, diese Stunde, so viel bedeutet.

Ich muss euch sagen, dass ich in einer besonderen Weise ergriffen bin. Als ich am Morgen aufstand, habe ich wie immer den Text aus dem Lobgesang des Benedictus in mein Morgengebet aufgenommen, der da lautet:

‚Gesucht hat uns die barmherzige Liebe unseres Gottes, das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in der Finsternis des Todesschattens sitzen, und um unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.‘

Ein Satz, der ausdrückt, was mich in dieser Stunde bewegt. Ich muss euch sagen, dass ich in dieser kleinen Ansprache vielleicht etwas persönlicher werde, als ich es sonst zu tun gewohnt bin.
Ich habe jetzt 80 Jahre Tiroler Geschichte bewusst erlebt, und wenn ich zurückblicke, vergehe ich nicht in dem, was alten Menschen so leicht passiert: in der ‚Vergangenheitsverklärung‘. Um die Worte des Benedictus zu gebrauchen, ich habe die Schatten über meiner Heimat Tirol hautnah und unmittelbar erlebt.

In den 20er-Jahren war ich noch ein Kind, aber ich war mit Südtirol immer sehr verbunden, weil mein Vater und Großvater mütterlicherseits aus Südtirol stammen. Ich selbst bin in Innsbruck aufgewachsen. Auf den Fahrten nach Südtirol waren für mich als Kind die Schatten des Unrechts die drückendsten Erinnerungen. Vor allem die Fahrt über die Grenze war für mich immer ein Schrecken: Uniformen, Soldaten, es war wie im Kriegsgebiet – für mich war das fürchterlich.

Ich habe die Schatten des Unrechts über meiner Heimat also sehr nahe und sehr tief erlebt – und auch die Schatten des Hasses. Ich habe erlebt, dass meine liebe und gütige Tante als Deutschlehrerin sofort entlassen wurde, und habe die vielen, vielen Nadelstiche und das Wachsen des Hasses und den Schatten des Hasses gespürt.

Ich habe die Schatten der Not über Tirol erlebt. Ich weiß noch, dass in den Jahren um die 30er Tiroler Gemeinden, die heute zu den Spitzenadressen des Tourismus in Europa gehören, Notstandsgebiet waren, in denen hoch verschuldete Bergbauern um ihre Existenz gekämpft haben! Ich habe auch die Not in Südtirol kennengelernt, wirkliche Armut, nicht nur ein knappes Leben.

Ich habe über meiner Heimat die Schatten des Terrors erlebt; des Terrors hier, der Südtirol bis an den Rand des Untergangs gebracht hat; und des Terrors bei uns im Norden, den braunen Terror! Ich bin mit 18 Jahren im Gefängnis der Gestapo gelandet, weil ich eine Wallfahrt organisiert hätte. Im letzten Augenblick entkam ich dem KZ-Transport.

In meiner Einheit beim Militär habe ich erlebt, wie bei 40 Grad Kälte von 1.000 Mann nur 60 übrig geblieben sind. Ich habe die Schatten über Tirol, die Schatten über der Heimat wirklich erlebt!
Und jetzt versteht ihr vielleicht, warum ich in diesem Augenblick, wo hier ein Weg über die Grenze eingeleitet wird, überwältigt bin. Ich bin persönlich ergriffen.

Mit diesem Rückblick von 80 Jahren Tiroler Geschichte kann ich nur ein Gebet des Dankes sprechen, nämlich dass Gott die Schatten von unserer Heimat in einem solchen Ausmaß weggenommen hat.

Die Schatten des Unrechts und die Schatten der Grenze!

Da steigt keiner vom Gaspedal herunter und keiner nestelt mehr nach dem Pass, man rauscht an den verlassenen Kasernen und den verrotteten Bunkern vorbei. Das ist wunderbar, bedenkt man, was das einmal für uns bedeutet hat.

Auch die Schatten des Hasses verblassen – ich glaube, Nationalhass hat sich wohl in die finsteren Winkel der Dummheit und der Beschränktheit zurückgezogen und hat keinen Platz mehr in vernünftigen Menschen. Man sieht doch heute einander! Es ist etwas Wunderbares, dass unser Land im Norden und Süden ein Land der Weite ist, der Weltweite, auch dank des Tourismus. Das alles ist eine unglaublich positive Entwicklung!

Und wie ist das mit den Schatten der Not?

Meine Lieben, als ich aus der Gefangenschaft in die zerbombte Heimat zurückkam, hätte ich mir nicht in den kühnsten Träumen jemals träumen lassen, dass dieses Land Tirol einmal so aussehen wird – im Norden und Süden –, wie es heute ist! Und ich kann mir denken, als die alten Sextener nach dem Ersten Weltkrieg ihr zerstörtes Dorf vor sich hatten, konnten auch sie sich nicht erträumen, wie dieses Sexten heute aussieht. Da ist unglaublich viel passiert!

Beide Teile, sowohl Nordtirol wie auch Südtirol, gehören heute in der EU zu den Spitzen-Regionen der Lebensqualität. Wir haben einen breit gestreuten Wohlstand. Natürlich gibt es noch Not und Elend. Damit bin ich auch heute noch konfrontiert, aber das lässt sich nicht vergleichen mit dem, was früher war!

Wir haben eine funktionierende Verwaltung. Wir haben ein funktionierendes Gesundheitssystem, um das uns viele beneiden! Wisst ihr, warum ich das sage? Ich habe nicht nur in meiner Heimat als Seelsorger gearbeitet, ich war zehn Jahre Caritas-Bischof von Österreich und bin dadurch mit der Not der ganzen Welt konfrontiert worden, von Indien bis Bolivien, vom Kongo bis Albanien, von Nicaragua bis Somalia. Ich bin mit der schrecklichen Not der Welt bis zum heutigen Tage konfrontiert worden.
Ich glaube, es gibt 6 Milliarden Menschen, und ich weiß, Milliarden würden ein Leben in einem Land, wie wir es bei uns in Nord- und Südtirol haben, als Paradies empfinden, als unerträumbares Paradies!

Und jetzt wisst ihr, warum ich in dieser Stunde eigentlich so ergriffen bin? Es ist für mich die Stunde der Dankbarkeit. Das Schönste ist, dass die Schatten der Not von der Sonne der Hilfsbereitschaft abgelöst wurden. Da kann ich euch nämlich auch ein Lied singen. Ich ziehe jetzt ein- mal den Hut vor den Osttirolern! Solange ich Caritas-Bischof war und darüber hinaus war Osttirol jene Region Österreichs mit der höchsten Pro-Kopf-Hilfsbereitschaftsquote des ganzen Landes. Und ich weiß auch, dass es in Südtirol viel Hilfsbereitschaft gibt, die über die Grenze hinausströmt. Das ist wunderbar!

Wir waren einmal ein Land, zerbombt, zerstört, ... unsere Dörfer waren kaputt, unsere Städte waren kaputt. Und heute dürfen WIR der Welt helfen, das ist doch wunderbar!

Und wir haben jetzt bereits 64 Jahre Frieden! 64 Jahre Frieden hat es in diesem Land seit seinem Bestehen noch nie gegeben! Das muss uns einmal bewusst werden.

Wisst ihr, was in dieser Lesung gesagt wurde? Wenn du reich geworden bist, wenn du dir schöne Häuser gebaut hast und wenn du satt geworden bist, vergiss den Herrn, deinen Gott, nicht!
Der Wohlstand macht alles – das Schönste – zur Selbstverständlichkeit, und ich weiß aus der Erfahrung meiner 80 Jahre, dass nichts selbstverständlich ist, sondern alles ein Geschenk. Und deswegen, meine Lieben, versteht ihr, warum ich diese Stunde mit dem Gebet beschließe, das ich am Morgen schon beim Morgengebet gebetet habe:

Gesucht hat uns das strahlende Licht aus der Höhe, die barmherzige Liebe unseres Gottes, um euch zu leuchten, die im Schatten sitzen, um unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens. Amen.“

Wörtliche Abschrift einer Tonaufnahme, Elisabeth Bodner Sillian/Wien
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